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Scheitern als Chance: eine Streitschrift

Kürzlich hörte ich einen Vortrag von Jochen Schweizer über Scheitern als Chance: Vom Hinfallen und Wiederaufstehen. Die Aussage beschäftigt mich seitdem: Scheitern passiert wahrscheinlich. Es ist eine Chance auf Wachstum.

Chan|ce (Substantiv, feminin)
1. günstige Gelegenheit; Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu erreichen
2. Aussicht auf Erfolg

Ja, Scheitern passiert wahrscheinlich. Manche Menschen haben Glück und scheitern nur im Kleinen. Andere Menschen scheitern spektakulär und öffentlich. Scheitern ist Teil des Lebens. Doch ist es immer eine Chance auf Wachstum? Das Wort Chance hat einen Subtext: eine Chance sollte man ergreifen, sonst macht man einen Fehler. Denn aus einer Chance wird etwas Gutes. So wird aus der Chance auf Wachstum die Pflicht zum Wachstum. Das finde ich bedenklich.

Letztes Jahr war ich noch Leiterin eines Teams bei einem Konzern. Dann musste ich alle meine Mitarbeiter entlassen, denn die Niederlassung wurde geschlossen — meine eigene Kündigung lag oben auf dem Stapel. Wir waren gut und sind dennoch gescheitert. Wenn ich die Uhr sechs Jahre zurück drehen könnte, dann würde ich wenig anders machen. Ich habe aus dem Scheitern also wenig gelernt, denn es hatte nichts mit uns und unserer Leistung zu tun. Es war Pech, dass wir nach einer Firmenfusion plötzlich vor Goliath standen und keine Steinschleuder zur Hand hatten.

Kurz nach der Bekanntgabe sprach ich mit einer Kollegin, deren Standort einige Jahre früher geschlossen wurde. Sie wollte mich trösten und sagte, dass alle ihre früheren Kollegen nach der Schließung viel bessere Jobs gefunden haben, als sie vorher hatten. Bei manchen meiner ehemaligen Kollegen ist das nicht so. Manche suchen noch immer, andere sind in ihrer neuen Arbeit unglücklich. Sind sie deshalb Menschen, die ihre Chance auf Wachstum nicht nutzen? Oder hatten sie einfach Pech und die anderen hatten Glück?

Es kann auch ganz anders sein: Menschen wollen sich nach dem Scheitern nicht ganz so mies fühlen. Nach einem traumatischen Erlebnis neigen Menschen dazu, sich selber vor dem Ereignis besonders kritisch zu sehen (1). Das Wachstum am Trauma ist oft Einbildung. Wenn schon etwas Schlimmes passiert ist, dann soll es wenigstens zu etwas gut gewesen sein. So fühlt es sich im Rückblick weniger sinnlos an.

Scheitern führt manchmal zu Wachstum, manchmal aber zu erzwungenem Stillstand. Scheitern ist weniger eine Chance, sondern ein Reinfall mit ungewissem Ausgang. Manchmal reicht die Kraft gerade noch dazu, nicht im Dreck liegen zu bleiben. Dann steht ein Mensch wieder auf und geht seinen Weg weiter. Bergab, bergauf, mit Kurven und Sackgassen. Ohne daran zu wachsen. Manchmal reicht die Kraft aber auch nicht mal mehr fürs Aufstehen. Dann bleibt ein Mensch liegen, bis ihm jemand aufhilft.

Eines ist sicher: Scheitern passiert wahrscheinlich. Was danach kommt, weiß niemand.

 

scheitern als chance

 

Referenzen

1: Christina Berndt (2013): Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München.
Die Aussage beruht auf Publikationen von Tanja Zöllner und Andreas Maercker.

Bild von BBoomerinDenial, Morguefile.com

Sketchnote: © Wiebke Wetzel | Kundenzauberin | 2015

27. November 2015

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